Ein langer Donnerstag

03März2016

Die erste Nacht im Panorama-Hotel ist für manche Zimmerbesatzung etwas unruhig verlaufen. Ein Wetterumschwung kündigte sich an: Starker Wind pfiff die ganze Nacht ums Haus und verursachte im Zusammenspiel mit undichten Fenstern ein Pfeifkonzert von beeindruckender Lautstärke. Die Panorama Sinfonie wurde komplettiert, als der Muezzin (oder sein elektrischer Vertreter) so gegen 4 Uhr 30 Uhr zum Gebet rief. Die Abfahrtszeit - halb neun - unseres blauen Busses zur Gedenkstätte Yad Vashem ist aber dennoch zu schaffen, notfalls auf Kosten des Frühstücks.

Ach ja, das Frühstück. Die Zutaten dieser Mahlzeit sind hier in Ostjerusalem ein wenig anders, als man es von Zuhause kennt. Thunfischsalat, Paprika, Tomaten und Schokoladenkuchen ergänzen die global üblichen Marmeladenportionstöpfchen. Die männlichen Küchenfeen zaubern aber auf Wunsch auch frisches Rührei. Dazu Instant-Kaffee, den es hier überall gibt. Insgesamt ein ordentlicher, aber ausbaufähiger Start in den Tag.

Nach kurzem Stopp am Parlamentsgebäude Knesset biegen wir in die Zufahrt zu Yad Vashem ein. Der Kultusminister sponsert uns hier und heute ein sechsstündiges Programm. Im ersten Teil bekommen wir eine Führung durch das Museum. Wir lernen, wie sich das jüdische Leben zu Beginn der 30er Jahre durch die Machtergreifung erst langsam, dann immer radikaler änderte. Die Ausstellungsstücke sind alles Originale. Bilder und Nazi-Fahnen von 1933, Judensterne und diskriminierende Schilder und Plakate. Zwei Abteilungen weiter sehen wir ein Filmdokument, in dem eine Erschießung gezeigt wird. Und immer wieder stellt sich die Frage: woher der ganze Hass? Woher die enorme Lust deutscher Soldaten an solch brutalen Handlungen? Das Museum gibt keine Antworten, sondern dokumentiert schlimme Einzelschicksale, aber auch Geschichten, die gut ausgehen. Das Problem des langfristigen Umgangs mit diesen Taten wird durch das Museum nicht gelöst. Die Frage, ob man nach soundsovielen Jahren dieses traurige Kapitel Geschichte einfach umblättern darf, muss jeder für sich selbst beantworten.

Im zweiten Teil hat unser smarter Guide Jonathan eine kleine „Aktivität“ vorbereitet. Als das magische Wort „Gruppenarbeit“ fällt, setzt sofort routiniertes Stühlerücken ein. Tjaaa … Elf Jahre Montessori. Bei dieser Disziplin macht uns keiner etwas vor. Routiniert werden die Materialien zu den hier dokumentierten Einzelschicksalen bearbeitet und nach 20 Minuten stehen die Ergebnisse. Doch der Tag ist noch nicht vorbei. Mitten in der Präsentation von Gruppe 4 springt Jonathan auf und verlässt den Raum. Bald ist er zurück und bringt Besuch mit. Die ältere, aber noch sehr rüstige Dame ist Hanna Pick, eine Überlebende des Holocaust. 90 Minuten ohne Pause erzählt sie druckreif aus ihrem Leben. Unsere kleine Reisegruppe ist total fasziniert, als wir erfahren, dass sie neben Anne Frank gewohnt hat und sie beste Freundinnen waren. Selbst im Lager Bergen-Belsen haben sich noch kurz wiedergetroffen. Die vielen Episoden - tragische, schicksalhafte oder komische – trägt Frau Pick ohne Manuskript und ohne die Spur einer Ermüdung vor. Man könnte noch stundenlang zuhören. Unsere Schülerinnen und Schüler nutzen die in jeder Hinsicht historische Begegnung am Ende für ein Gruppenbild – der Abschluss eines wahrhaftig außergewöhnlichen Nachmittags.

Als wir uns um zehn vor sieben am Rand der Altstadt treffen, schwenken die Damen Einkaufstüten – alle vom gleichen Laden. Die Nachfrage des Blogisten, was man denn da kaufen könne wird nach kurzem vorwurfsvollem Schweigen mit „da gibt es nichts für Sie“ beantwortet. Ah ja. Nun, das Personal schien die Damen nur mittels kräftiger Rabatte von einem Kauf überzeugt zu haben. Wenn man schon in der modernen Mamilla Mall gute Preise aushandelt, dann ist man reif für die Altstadt.

Wir beschließen den Tag in den Tunneln , die entlang der Klagemauer unter der heutigen Bebauung verlaufen. Ganz schön eng sind die Durchlässe, ganz schön rutschig der Boden. Der Anblick eines 12 Meter langen und 4 Meter hohen Bausteins der Klagemauer beeindruckt noch einmal die Krefelder Delegation, die ja heute schon viel erlebt hat.

Nach 216 Stufen Kidron-Tal und der ansteigenden Straße hinauf nach Ras al Amoud fallen wir glücklich ins Bett --- ach nee: in die Lounge Sessel in der Lobby. Denn hier gibt es wLan. Der Tag muss jetzt erst noch mit der Welt besprochen werden.